Dieses Blog durchsuchen

Freitag, 26. Juli 2013

UNTN

Alice im Untergrund


Sie steigen in die U-Bahn und bemerken, dass auffällig viele Menschen mit großen Kopfhörern in diesem Abteil sitzen. Doch diese Menschen scheinen auf dem ersten Blick seltsamerweise nichts miteinander zu tun zu haben. Sie nehmen also mit einem merkwürdigen Gefühl, dass es sich um keine gewöhnliche U-Bahn Fahrt handelt Platz und beobachten weiterhin Ihr Umfeld. Plötzlich stülpt sich der Mann neben Ihnen einen Gummihandschuh über die Hand und beginnt den Müll vom Boden der U-Bahn aufzusammeln. Ein weiterer läuft mit einem Fake Banjo durch das Abteil und singt Playback zu einem Song, den man nicht hören kann, während er auf den nicht vorhanden Saiten des Instruments zupft. Mittlerweile sind Sie nicht mehr die einzige Person, der in dieser U-Bahn etwas reichlich seltsam vorkommt. Aus unerfindlichen Gründen erheben sich alle Personen mit einem Kopfhörer gleichzeitig von ihren Sitzen, stehen eine Weile schweigsam und setzen sich wieder auf Ihre Plätze. Während der Herr, der zuvor den Müll aufgesammelt hatte, nun Wäsche auf einem Kleiderbügel an den Haltegriffen der U-Bahn aufhängt, hört man schon das erste verstörte Gelächter. Verwirrt müssen Sie hinnehmen, dass Sie nicht verstehen können, was hier gerade passiert.

„Was geht’n hier ab Oida?!“
„Wo ist die versteckte Kamera?“
Das und ähnliches bekam man am 16.07.2013 in der Münchner U-Bahnlinie U2 zu hören, wenn man ab 20:23 Uhr von der Haltestelle Messestadt Ost in Richtung Feldmoching unterwegs war. Das PATHOS Theater München lud zu der außergewöhnlichen Veranstaltung „UNTN“ ein, die eigentlich offiziell keine Veranstaltung war, weil hierfür die erforderliche Genehmigung der Münchner Verkehrsgesellschaft nicht vorlag. Also bewegte man sich, unter Einhaltung der Beförderungsvorschriften der MVG, als Fahrgast unter Fahrgästen im Untergrund.

In einer U-Bahn gelten Regeln. Abgesehen von den Vorschriften der Fahrgastbeförderung existieren nicht niedergeschriebene Gesetze – gesellschaftliche Regeln. Wer diese nicht beachtet, schießt sich schnell ins Aus. Man redet nicht lautstark in einer U-Bahn – nicht miteinander und schon gar nicht mit sich selbst. Schließlich sitzt man hier in einem engen Raum aufeinander und darf die anderen möglichst nicht belästigen oder in deren Privatsphäre eindringen. Man beobachtet die Menschen lieber durch die Spiegelung an der Fensterscheibe, um unauffällig einen Blick zu erhaschen, als direkt zu schauen und zu riskieren, dabei erwischt zu werden. Doch was passiert, wenn ein Fahrgast plötzlich aufsteht und anfängt die Scheiben der U-Bahn zu putzen? Was, wenn der Sitznachbar sich die Zähne putzt? Und was, wenn einem Fahrgast die bestellte Pizza in die U-Bahn geliefert wird und man auch noch freundlich ein Stück angeboten bekommt? Wenn all das passiert, haben wir das Gefühl, dass es sich hierbei um äußerst ungewöhnliche Dinge handelt. Unsere Gewohnheiten und Denkmuster werden durchbrochen. Unser Verständnis von sozialen Strukturen und Verhaltensweisen wird erschüttert. Aber was ist eigentlich normal und was anormal? Ist es nicht im gleichen Maße verrückt sich in der U-Bahn die Zähne zu putzen, wie lieber wegzuschauen, als hinzuschauen? Es ist wohl die Angst, dass etwas von jemandem gewollt wird, das die Fahrgäste einer U-Bahn veranlasst, sich am liebsten von allem abzuschotten. Was aber, wenn Dinge passieren, die so auffällig sind, dass man sich nicht mehr davon abschotten kann? Die Ungewissheit, wie man sich „richtig“ verhält, lässt viele eigenartig reagieren.

Ähnlich irritiert verhalten sich die „gewöhnlichen“ Fahrgäste der Münchner U-Bahnlinie U2, wenn sie beispielsweise beobachten, wie sich ein Mann im Käferkostüm und zwei weitere Männer gegenseitig überdimensional große Spielkarten herumreichen. Nur die Fahrgäste, die im Besitz eines Funkkopfhörers sind, welche zuvor an der Haltestelle Messestadt Ost ausgegeben wurden, verstehen durch das live übertragene Hörspiel, dessen Musik von Christoph Treußl und Text von Katrin Dollinger, Georg Reinhardt und Marcus Widmann stammen, die Zusammenhänge dieser seltsamen Geschehnisse. Interessant sind dabei auch die psychologischen Aspekte des Kollektivbewusstseins. Befinden sich die unbeteiligten Personen in der Minderheit, so ist zu beobachten, dass sich diese Menschen eher interessiert, amüsiert oder verdutzt verhalten und am liebsten zur Gruppe dazu gehören würden. Verändern sich die Verhältnisse so, dass die Unbeteiligten in der Überzahl sind, so wird die Gruppe als gesellschaftlich inakzeptabel empfunden und sogar verbal angegriffen.

Die Lieder und Texte, die von einem Laptop auf die Kopfhörer übertragen werden, haben stets einen engen Zusammenhang mit der Umgebung, die sich auf der Strecke befinden und sind hervorragend auf die Fahrt abgestimmt. Fährt die U-Bahn beispielsweise an der Haltestelle Messestadt West vorbei, so hört man, dass man gerade einen überirdisch gelegenen Friedhof passiert und wird für die dort ruhende Mutter gebeten zu einer Schweigeminute aufzustehen. Während der ganzen Fahrt vermischen sich illusionäre Konstruktionen mit der Realität, auf die man in der U-Bahn trifft. Die Grenzen zwischen Fiktion und Wahrheit verschwimmen so sehr, dass selbst die Teilnehmer oft nur noch schwer abschätzen können, wer eigentlich zu diesem performativen Schauspiel dazu gehört und wer ein gewöhnlicher Fahrgast ist. Wer ist Statist und wer real? Das alles wird exzellent mit der zeitgenössischen Architektur, der Stadtgeschichte und der heutigen Gesellschaft verbunden und reicht bis zu den Ansichten über die Demokratie eines alten griechischen Philosophen. Es gibt einen Denkanstoß über die eigene Lebensweise und öffnet die Tür zur Selbstreflektion. Muss man denn ein Leben lang ackern wie ein Wahnsinniger bis man selbst im Friedhof landet? Kann man nicht selber ein bisschen wie Alice im Wunderland sein und einen Schritt zurück machen, um einen anderen Weg zu gehen und eigene sowie gesellschaftlich vorgegebene Grenzen zu überschreiten, anstatt wie ein Hamster im Laufrad immer vorwärts zu laufen? Muss man immer nach oben streben? Sei es auf der Karriereleiter oder im privaten Bereich. Diese Frage muss jeder für sich selber beantworten. Vorerst wird man aber an den topologisch tiefgelegensten Punkt der Stadt herunter gezogen – nämlich der Endstation Feldmoching, welches auch die Eigenschaft besitzt, Stadt und Land miteinander zu vereinen. Vereint begeben sich auch alle Teilnehmer und Protagonisten tanzend aus dem Bahnhof nach oben, wo dieser einzigartig abwechslungsreiche und unterhaltsame Abend seinen Abschluss findet. Chapeau für diese ausgezeichnete Darbietung und die hervorragende organisatorische, technische und logistische Leistung, die sich dahinter verbirgt.

Hakan Karakaya
Foto: Matthias Kestel

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen